So finster, so kalt

 

Merle Hänssler hat ihrem Heimatdorf im Schwarzwald den Rücken gekehrt, um in Hamburg als Anwältin Fuß zu fassen – mit Erfolg. Doch seit einiger Zeit leidet sie unter Alpträumen, die sie nicht einordnen kann. Ist es der Stress? Dann ruft ein Anruf ihres Jugendfreunds sie zurück nach Steinbach: Ihre Großmutter Mago ist gestorben. Im abgelegenen alten Häuschen ihrer Oma findet sie alte Dokumente, bei denen es sich laut Mago um die Familiengeschichte der Hänsslers handelt und die eine frappierende Ähnlichkeit zu dem Märchen um „Hänsel und Gretel“ aufweisen. Nicht jeder im Dorf heißt Merle willkommen, denn Mago war zwar bei den Kindern die heißgeliebte Märchenomi, bei manchen Erwachsenen aber eher als Hexe verschrien. Merle sucht Hilfe bei Jakob Wolff, einem Experten für Märchen und Sagen. Schnell fühlt sie sich zu ihm hingezogen, aber rückhaltlos vertrauen kann sie ihm nicht. Dann verschwinden im Dorf auf einmal vier Kinder und die Ereignisse überstürzen sich. Merle scheint auf sich alleine gestellt, während sie bald nicht mehr zwischen Märchen und Realität unterscheiden kann.

 

Genau wie bei „Hüter der Worte“ hat Diana Menschig es in diesem Buch geschafft, zwei Geschichten miteinander zu verknüpfen. Zum einen die Realität und Merles Leben, zum anderen die Familiengeschichte, die im 16. Jahrhundert beginnt und von Hans, seiner „Schwester“ Greta und unheimlichen Geschehnissen berichtet. Auch verschiedenste Märchen und Sagen aus dem deutschsprachigen Raum werden in die Geschichte eingeflochten.

 

Bei „So finster, so kalt“ konnte mich die Autorin wieder mit ihrem Schreibstil überzeugen. Ihre Charaktere sind lebendig, ihre Handlungen nachvollziehbar. Mit Merle allerdings konnte ich nicht richtig warm werden. Sie ist nicht unsympathisch, aber wirkt stellenweise panisch und unentschlossen, dann wieder völlig gelassen – was alles in allem eher unstimmig war. Jakob dagegen tritt von Anfang an als undurchschaubarer Charakter auf, so dass man bis zum Ende zweifelt, ob er der nette Kerl ist, den man sich wünscht. Oma Mago ist – obwohl tot – sehr präsent, ebenso wie Hans. Selbst eher unwichtige Charaktere, wie die anderen Dorfbewohner, sind sehr gut ausgearbeitet.

 

Liest sich die Geschichte zu Beginn noch etwas ruhiger, nimmt sie schnell an Spannung zu und durch die Szenenwechsel zwischen Realität und Vergangenheit bleibt sie interessant. Die Grundstimmung bleibt durchgängig mysteriös, aber nicht gruselig.

 

Auch das Cover passt sehr gut zum Gesamtbild. Die Hütte wirkt, als würde sie im Nebel veschwinden, nur ein Lichtschein zeigt den Weg dorthin. Die erste Strophe des Liedes „Hänsel und Gretel“ sowie das Rezept für Lebenkuchenmännlein runden das Ganze dann ab.

 

Eine klare Empfehlung für Märchenliebhaber, die diese mal aus einer anderen Perspektive lesen möchten.

 

April 2014

Knaur, ISBN 978-3-426-51493-1

Taschenbuch, 384 Seiten

VÖ: April 2014

Hüter der Worte

 

Tom ist Student und Schriftsteller - seine beiden ersten Bücher haben bei Fantasyfans eingeschlagen. Nun hat er versprochen, eine elfbändige Serie zu schreiben, doch gerade jetzt hat er eine Schreibblockade. Dies ändert sich, als er zufällig Mellie kennen lernt und mit ihr mehr und mehr Zeit verbringt. Mit ihr fühlt er sich wohl, kann mit ihr über alles reden und sie gibt ihm einige interessante Denkanstöße für sein Buch. Eines Tages findet er in ihrem Arbeitszimmer einige Manuskriptseiten; sie alle handeln von seiner fiktiven Welt Willerin und deren Bewohnern. Er ist fest der Meinung, Mellie schreibt Fanfiktion und hat ihm die Blätter extra zukommen lassen und greift ihre Ideen auf. Als Mellie dies herausfindet, flippt sie völlig aus und trennt sich von ihm. Tom macht sich auf den Weg nach Australien zu seinem Bruder, um seine Wunden zu lecken. Und plötzlich findet er sich mitten in Willerin wieder. Und hier wird sein komplettes Weltbild auf den Kopf gestellt; er muss sich seinen Taten und deren Konsequenzen stellen, erfährt die Wahrheit über sich und Mellie und steht am Beginn eines großen Abenteuers.

 

Geschickt verknüpft die Autorin Wirklichkeit und Fiktion. Oder ist Fiktion gar keine Fiktion? Zu Beginn spielt die Geschichte parallel in zwei Welten – unserer bekannten (hier befinden wir uns in Münster) und der Phantasiewelt Willerin. In Münster spielt sich das „wahre“ Leben ab, die Parts in WIllerin lesen sich wie eine Geschichte in einer Geschichte; lesen wir doch Toms Buch. Und plötzlich reist der Leser gemeinsam mit Tom nach Willerin, lernt die Charaktere Laryon, Finn, Nolen und viele weitere leibhaftig kennen. Auch mit Mellie gibt es ein Wiedersehen.

 

Diana Menschig schafft es mit diesem Schreibstil, den Leser in ihre Welt zu ziehen. Die Kapitel wechseln sich ab zwischen Toms Leben und den Begebenheiten in Willerin, bis zu dem Punkt, als sich beide Welten verbinden. Alles ist so geschrieben, dass man vom eher außenstehenden Zuschauer zum „Mitspieler“ wird und alles fast aus erster Hand erlebt.

 

Auch die Wandlung, die einige der Charaktere durchlebt haben, ist sehr schön dargestellt. Tom lebt eigentlich in den Tag hinein. Ihm macht zwar zu schaffen, dass er sein Manuskript nicht rechtzeitig fertig stellen kann, aber schlaflose Nächte bereitet es ihm eher nicht. Verantwortung zu übernehmen scheint ihm auch nicht zu liegen. Dies ändert sich aber im Laufe des Buches; spätestens in Willerin, als er von der Verantwortung von Worthütern gegenüber ihren Wortgestalten erfährt und lernt, dass er erst überlegen und dann handeln muss, wird er erst richtig erwachsen. Die vermeintlichen Nebengestalten, die Bewohner von Willerin, gewinnen mehr und mehr an Bedeutung und tragen viel zum Charme des Buches bei. Laryon beispielsweise, der mit seinem Leben als Grenzreiter zufrieden ist und eigentlich keine Lust auf Abenteuer hat: Er muss ein sehr wichtiges Abenteuer bestehen und über seine Grenzen gehen. Fynn, ebenfalls Grenzreiter, der davon träumt, ein Bergwächter zu werden: Schüchtern und zurückhaltend zuerst, aber als es darauf ankommt, wächst er über sich hinaus.

 

„Hüter der Worte“ hat mich von der ersten Seite an gefesselt und begeistert. Ein bisschen habe ich gehofft, dass es hier noch Fortsetzungen geben soll, aber dem ist wohl (leider) nicht so. Wer aber mehr über Tom & Co. wissen will (Achtung Schleichwerbung): Es gibt eine tolle Seite in den Weiten des Internets – www.worthueter.de Ich persönlich werde künftig die Augen nach weiteren Büchern von Diana Menschig aufhalten.

 

November 2012

Knaur, ISBN 978-3-426-51111-4

Taschenbuch, 544 Seiten

VÖ: Oktober 2012